Bald mit
Cheftaste
Das Moorhuhn-Fieber hat halb Deutschland fest im
Griff
Treudoof äugt das Moorhuhn aus dem Computerbildschirm. So treudoof, dass
es nur den Tod verdient? Hunderttausende Deutsche, die jetzt am PC auf die Jagd gehen,
haben mit millionenfachen Abschüssen das Moorhuhn nicht ausrotten können. Im Gegenteil:
Die wachsende Fangemeinde verschafft dem Federvieh mit den Kugelaugen ewiges Leben. Denn
jetzt geht es richtig los: In Kürze erscheint eine CD mit aktuellen Pop-Songs und
Huhngegacker. Die Programmierer tüfteln an Teil zwei der virtuellen Schießerei und an
einem Online-Spiel. Kurz: Das Moorhuhn macht Karriere.
Was ist das für ein Spiel, das die Nation in Hasser, Bewunderer und
Süchtige spaltet? Ein einfaches, nicht unwitziges Ballerspiel. Jeder, der halbwegs mit
einer Computermaus umgehen kann, trifft auch das Moorhuhn. In einer herbstlich bunten
Hochmoorlandschaft flattern die rotbraunen Viecher ins Fadenkreuz am Curser und taumeln
nach einem vernichtenden Mausklick ins Gras. Je nach Huhngröße werden der Trefferliste
fünf, zehn oder 25 Punkte gutgeschrieben - genau 90 Sekunden lang. Dann muss der Jäger
pausieren und kann an Hand der Punkteliste seine persönliche Bestquote überprüfen.
Genau an dieser Stelle beginnt die Sucht. 400 Punkte gilt es zu überbieten, 500, 600....
Wen der Ehrgeiz packt, den lässt das Moorhuhn nicht mehr aus den Fängen.
Das hat zum Teil üble
Konsequenzen. Weil das mit 2,6 Megabyte Größe sehr handliche Spiel auch auf
vollgepackten Festplatten noch ein Plätzchen findet, zog es in deutsche Büros ein. In
Versicherungsunternehmen, Verwaltungen, Autokonzernen, sogar in den Büros des Deutschen
Bundestages gönnen Mitarbeiter sich seither mehrfach die 90- Sekunden-Pause
zwischendurch. Weil Erfolg doppelt adelt, wenn er auch bekannt wird, versenden die
treffsichersten Jäger E-Mails mit dem Punkterekord an Freunde, Kollegen und Nachbarn. Oft
tüten sie das Spiel als Anlage gleich mit ein.
Das Internet schlug zurück
Seit hin und wieder Firmenserver vor der gestiegenen Flut elektronischer
Postsachen kapitulieren, steht das scheue Huhn auf dem Index. Arbeitszeitvernichter,
Störer des Betriebsfriedens. Die Düsseldorfer Unternehmensberatung "Mummert und
Partner" rechnete einen volkswirtschaftlichen Schaden aus: Ein einstündiger
Rechnerausfall koste ein mittelgroßes Versicherungsunternehmen rund eine Million Mark. Ob
es immer nur Moorhuhn-Mails sind, die Server lahmlegen, sei dahingestellt.
Die "Moorhuhnjagd" war ursprünglich ein Werbegag, ersonnen von
der Hamburger Agentur V+B, die seit gut 15 Jahren Werbung für die Scotchmarke Johnnie
Walker entwirft. Was irgendwie nahe lag: Scotch, Schottland, Hochmoor, Moorhuhnjagd. Ein
beliebter Sport der britischen "Upper Class" - auch Thronfolger Prinz Charles
pirscht sich im Herbst gerne an das Flatterhuhn heran, wie britische Medien alljährlich
berichten. Die Reklame-Idee fand Anklang beim Whiskyproduzenten. Die Werbestrategen
wandten sich an die Phenomedia AG in Bochum, die Computerspiele entwickelt. Dort hatte Art
Direktor Frank Ziemlinsky das komische Abbild von lagopus lagopus scoticus als
Spielfigur schon seit 1992 in der Schublade, und er programmierte aus dem Stand die
"Moorhuhnjagd". Kurz darauf zogen junge Damen im Jagddress mit Laptops unterm
Arm durch ausgewählte britische Pubs, um via Ballerspiel den Durst auf einen bestimmten
Scotch zu eichen. Damit war die Werbekampagne zunächst abgeschlossen.
Doch dann schlug das Internet zurück. In der Tat haben die Macher mit
einem so flächendeckenden Erfolg des Spielchens nicht gerechnet, geschweige denn zu
seiner Verbreitung beigetragen. Niemand weiß, wer es heimlich kopiert und in Umlauf
gebracht hat. Sicher ist, so Phenomedia-Sprecher Ulf Hausmanns, dass das Unternehmen schon
im Sommer 1999 erste E-Mail-Anfragen von Moorhuhnfans bekam. Für mehr Öffentlichkeit
sorgte ein Berliner Rundfunksender kurz vor Weihnachten 1999, als er das Spiel zum
Gratiskopieren ins Netz stellte. Und weil die Rechercheure des Late-Night-Talkers Harald
Schmidt ihre Nase in alles stecken, was auch nur einen Hauch von Witz birgt, erfuhren Ende
1999 auch die Zuschauer der Harald-Schmidt-Show, dass Ballern auf ein schottisches
Raufußhuhn Spaß bringen kann.
Und Leid. Denn das Kulthuhn hat nicht nur Freunde. Prinz Charles geriet
vor Jahren mit Lady Diana aneinander, wenn er seine Söhne mit zur Moorhuhnjagd nehmen
wollte. Heute ist das virtuelle Exemplar ein Dorn in den Argusaugen der meisten
Unternehmenschefs, die unter Androhung von Abmahnungen unerbittlich darüber wachen, dass
der Flattervogel vor dem Firmentor abdreht. Zu allem Übel schleppt das wehrlose Geschöpf
gelegentlich einen bösen Virus in die Rechner. Eine per E-Mail verbreitete Kopie mit der
nicht originalen Datei "jwjagd.exe" im Moorhuhn-Ordner infiziert Computer mit
dem so genannten "CIH"-Virus, der auch unter dem Namen "Tschernobyl"
bekannt ist und am 26. April, dem Jahrestag der russischen Atomkatastrophe, zuschlägt.
Wird er aktiviert, beschädigt er Teile des Startprogramms, das Flash-Bios. Anschließend
kann der Rechner meistens nicht mehr gestartet werden. Ein Racheakt ballermüder
Virenschöpfer? Jedenfalls kein Grund zur Panik, denn alle halbwegs aktuellen
Virenscanprogramme erkennen CIH und vernichten ihn auch. Trotzdem empfehlen
Fachzeitschriften ein Update des Anti-Viren-Programms, eine Überprüfung der Festplatte
und das Herunterladen des Moorhuhnspiels nur von sicherer Quelle. Die Phenomedia, die dem
Hühnchen im Internet ein Nest geschaffen hat, verspricht, nur saubere Versionen unters
Volk zu bringen.
Protest der Tierschützer
Während begeisterte Fans die E-Mail-Hotline der Firma mit Wünschen und
Anregungen für das Fortsetzungsspiel strapazieren, die Server unter den
Download-Wünschen potentieller Jäger gelegentlich in die Knie gehen (laut Hausmanns eine
Million Zugriffe in den vergangenen drei Wochen), ist das Spiel in die Kritik der
Tierschützer geraten. Ihrer Empörung über den Moorhuhnmord machten sie mit dem Urteil
"pädagogisch fragwürdig" Luft. "Dieses Spiel senkt wie viele andere die
Hemmschwelle, Tieren gegenüber brutal zu sein", mahnt Thomas Schröder, der Sprecher
des Deutschen Tierschutzbundes.
"Echt witzig" findet dagegen der Medienexperte bei der
Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, Tilman Ernst, die
"Moorhuhnjagd", vor allem im Vergleich zu anderen Ballerspielen. "Besser,
man schießt auf die virtuellen als auf die echten Hühner", sagt Ernst. Im übrigen
liege die Dynamik des Spiels darin, etwas zu treffen, dieses "Etwas" könne auch
ein Karton oder ein Ball sein.
Hausmanns hat derweil an Hand der Fanpost festgestellt, dass viele
PC-Benutzer mit dem Moorhuhn erstmals in die Welt der Computerspiele eingedrungen sind,
darunter auch viele Frauen. Auch deshalb basteln die kreativen Köpfe der Phenomedia nun
unverdrossen an Weiterlebenskonzepten. Eine Fortsetzung des PC-Spiels soll Anregungen der
Fans aufnehmen und das Spielambiente um einige Gags bereichern. Wichtigstes Utensil: eine
"Cheftaste". Damit kann die virtuelle Jagd blitzschnell vom Bildschirm verbannt
werden, sobald der Chef naht. Was die um die Arbeitsmoral ihrer Mitarbeiter besorgten
Führungskräfte sicher nicht erfreuen wird. Außerdem soll in der zweiten Märzhälfte
ein kostenloses Online-Spiel starten, in das sich mehrere Internet-Jäger gemeinsam
einloggen können. In Zukunft könnte das schräge Tier sich auch mit neuen Spielideen auf
CD-ROM verewigen.
"Das Moorhuhn hat ein Leben neben der Jagd", beteuert Hausmanns,
der übrigens aus Bonn stammt und sich ehrenamtlich im Heimatverein Wachtberg-Villip
engagiert. Die Phenomedia hat gerade eine Lizenz an die Berlin Musik GmbH (BMG) vergeben.
Das Huhn soll auf Singles, Alben und Compilationen nationale und internationale Stars
präsentieren und dabei auch mal selber ins Mikrofon gackern. Dazu gesellt sich ein dickes
Promotions- und Marketingpaket inklusive Videoclips und Fernsehspots.
Weil dem Moorhuhn nun allmählich goldene Federn wachsen, mussten
zwischendurch die Anwälte ihre Büchsen laden. Die anstehende profitable Vermarktung
schuf auch Begehrlichkeiten und rückte die Frage der Urheberrechte vorübergehend ins
Rampenlicht. "Kein Zweifel, die Rechte für das virtuelle Huhn liegen bei uns",
sagt Hausmanns.
Inzwischen ist Moorhuhn 2 erschienen, hat wegen gigantischen
Fan-Interesses reihenweise Server lahmgelegt - und auf dem Weihnachtsmarkt am Kölner
Roncalliplatz gibt es Minimoorhühner aus Marzipan! |
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