Die
Zeit der Straßenfeger!
Das Deutsche Fernsehen und die Verlässlichkeit: Seit 50
Jahren halten Millionen Zuschauer der "Tagesschau" um 20 Uhr die
Treue
Die Qual
der Wahl hatte vor 50 Jahren niemand. Von 20 Uhr an zwei Stunden täglich
Programm, ansonsten Testbild. Am 1. Weihnachtstag 1952 eröffnet der
Intendant des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), Dr. Werner Pleister, mit den sinnigen Worten „Wir
beginnen!“ das Deutsche Fernsehen. Ein bisschen spät, denn in Amerika
fegen Shows und News längst die Straßen leer. Das Nachkriegsdeutschland
muss sich den Besatzungsmächten fügen, die bis 1948 jegliche
Fernsehproduktion verboten haben. Ein Fernsehgerät kann sich zu Beginn
der Wirtschaftswunderzeit noch kaum einer leisten, und viele wollen auch
gar nicht. Die Rundfunknation hält die Vision vom Minikino in jedem
Wohnzimmer für neumodisches Zeug und überflüssig, Zeitungen geißeln
den „Televisions-Wahnsinn“. Die „Welt“ zitiert den ehemaligen
Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge mit dem mahnenden Reim: „Radio
immer spielbereit, Fernsehen nur von Zeit zu Zeit.“
Der NWDR jedoch, der einzige Sender,
der es sich leisten kann, arbeitet auf dem Heiligengeistfeld nahe der
Hamburger Reeperbahn mit Feuereifer für eine stabile Demokratie. Die
Vision der Fernsehväter ist demokratisches Fernsehen, das der
Allgemeinheit gehört, nicht dem Staat, nicht der Kirche und schon gar
nicht privaten Geldgebern. Briten und Amerikaner haben sich für den neuen
deutschen Rundfunk glashart föderale und demokratische Strukturen
ausbedungen. Erfahrungen wie mit dem Staatsrundfunk in der Weimarer
Republik sollen sich nicht wiederholen, und schon gar nicht Untaten wie
die der Nationalsozialisten, die den Rundfunk als Propagandainstrument
missbrauchten. 1950 schließen die damals sechs
Sender sich zur Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) zusammen. Damit beginnt, was sich
heute mit zehn Sendern zu wahrer Sitzungskultur entwickelt hat, ein fast
politischer Prozess mit Bündnissen, Taktik und Absprachen. Irgendein
ARD-Gremium tagt immer irgendwo, die Sender streiten sich um Kompetenzen
und Zuständigkeit, Politiker ringen um Einfluss – ein zäher Prozess
bis heute. Am 2. Weihnachtstag 1952 läuft die
erste „Tagesschau“ und startet durch in eine glänzende Zukunft. Auch
heute „zappen“ Zuschauer
am liebsten um 20 Uhr zum „Ersten“, wie es seit 1984 heißt.
Ungeachtet aller Kritik, die Nachrichtensendung sei staatstragend,
betulich und langweilig, ist ihr Marktanteil im ersten Halbjahr 2002 auf
34,1 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: „Heute“ im ZDF: 23,3 Prozent,
„RTL Aktuell“: 18,9 Prozent. „Guten Abend, meine Damen und Herren,
hier ist das deutsche Fernsehen mit der Tagesschau!“ klingt vielen im
Ohr. Vor allem aus dem Mund des ehemaligen „Tagesschau“-Sprechers
Karl-Heinz Köpcke, der kaum mit gravierenden Versprechern, dafür aber
mit einem Urlaubs-Bart die Nation zum Aufschrei treibt. Viele
Nachrichten-Ikonen folgen ihm nach – Dagmar Berghoff etwa oder Hanns
Joachim Friedrichs in den „Tagesthemen“. „Tagesschau“-Prinzip von Anfang
an: Das Wichtigste vom Tage in 15 Minuten. Während anfangs schon mal Schwäne
auf der Binnenalster als Hintergrundbild herhalten, wenn wenig los ist,
kommt mit den Korrespondenten allmählich Schwung in die Sendung. Günter
Müggenburg leitet von 1965 bis 1970 das ARD-Studio in Bonn und moderiert
den „Bericht aus Bonn“, den Friedrich Nowottny und Ernst-Dieter Lueg
später übernehmen. Zwei Jahre vor seinem Tod erinnert sich Müggenburg
in der Tageszeitung „Die Welt“: „Der Pförtner des Bonner Studios
rief den diensthabenden Redakteur in Hamburg an: Hallo, sagte er, vor mir
steht der Herr Bundeskanzler. Äh – wat soll dä hier??“ Konrad
Adenauer sollte ein Statement abgeben für die Tagesschau. Das
Filmmaterial wurde dem nächsten Flugkapitän mit Ziel Hamburg in die Hände
gedrückt. Am Abend konnten die Zuschauer ihren Bundeskanzler in Wort und Bild bewundern. In Zeiten von Kabel-,
Satelliten- und Digitaltechnik sind Kurzgespräche mit Korrespondenten in
aller Welt völlig normal. Das Fernsehen der Anfangsjahre kostet
fünf Mark Gebühr und passt zu Schneiderkostüm und Nierentisch: klare
Form, knitterfrei, pädagogisch, moralisch. Aber auch gesellschaftsfähig.
Wer ein Fernsehgerät besitzt, lädt sich gerne Freunde ein. Zu Käsewürfeln
und Wein, zu Häppchen und „Kalter Ente“. Zu „Bunten Abenden“ mit
Peter Frankenfeld, Caterina Valente und Hans-Joachim Kulenkampff. Sie und
Werner Höfers Wein trinkende Journalistenrunde, „Der blaue Bock“ mit
Otto Höpfner und später Heinz Schenk, „Stahlnetz“ von Jürgen
Roland, Inge Meysel in den „Unverbesserlichen“, Rudi Carrell, Joachim
Fuchsberger und Robert Lembkes Beruferaten „Was bin ich?“ sind
unvergessene Höhepunkte früher deutscher Fernsehunterhaltung. Für Kinder gibt es die Augsburger
Puppenkiste, die „Sesamstraße“, das „Sandmännchen“ und 1972
kommt die „Maus“ hinzu. Abende mit dem Hamburger Ohnsorg-Theater, der
Grand Prix d’Eurovision, das „Wort zum Sonntag“, die
„Sportschau“ mit Ernst Huberty, Bernhard Grzimeks „Ein Platz für
Tiere“ und Chris Howlands „Musik aus Studio B“ feiern allesamt in
den ersten zehn Jahren Fernsehen Premiere. Der Bayerische Rundfunk übrigens
auch: 1961 weigert er sich aus „sittlichen Gründen“, die
Kortner-Inszenierung „Lysistrata“ in seinem Sendegebiet auszustrahlen.
Es bleibt nicht bei diesem einen Alleingang. Das „Wunder von Bern“ bei der Fußballweltmeisterschaft
1954 bekommen die meisten Bundesbürger noch in so genannten Fernsehstuben
mit. 1960 registriert die ARD bereits 3,4 Millionen Fernsehteilnehmer,
Tendenz steigend. Im Januar 1962 strahlt der WDR den ersten
Durbridge-Sechsteiler aus. „Das Halstuch“ fegt die Straßen leer.
Beliebte Kinderfrage aus diesen Tagen: „War bei euch gestern auch der
Krimi drin?“ – als ob da etwas anderes hätte drin sein können.
1969 schlagen Millionen sich die Nacht um die Ohren, um Punkt 3.56 Uhr
live zu sehen, wie Neil Armstrong den Mond betritt. 1970 ermittelt
Kommissar Trimmel am ersten „Tatort“. Zwei Jahre später erschüttern
die Deutschen und alle Welt Bilder von der Geiselnahme bei den Olympischen
Spielen in München. Als 1991 der Golfkrieg gespenstische
Live-Bilder zum Abendessen serviert, hat die Fernsehlandschaft sich
grundlegend verändert. Seit 1963 sendet das Zweite Deutsche Fernsehen
mit. Der Wille zur Kooperation gedeiht langsam, reift aber notgedrungen
zum echten Bündnis, als Mitte der 80er Jahre das Privatfernsehen startet.
Das war ein Schock für die „Öffentlich-Rechtlichen“ und ihren
Bildungsauftrag: Kommerzfernsehen mit ganzen Bündeln billiger
Unterhaltung – und die Deutschen gucken in Massen hin! Obwohl sie doch
bei ARD und ZDF in „der ersten Reihe“ sitzen! Bis heute
reißt die Diskussion über Informationspflicht und Bildung, über
Quotenhurerei und das Tänzeln an den Grenzstreifen des guten Geschmacks
nicht ab. In der bevorstehenden Ära des digitalen Fernsehens werden an
einer „Multimedia Home Platform“ Internet, Radio und TV miteinander
verschmelzen, der Gebührenzahler angelt sich Unterhaltung nach Wunsch aus
virtuellen Pools. Fernsehen
ist längst kein echtes Massenmedium mehr: Schon heute ist überall etwas
anderes drin.
Echt Kult!
Same procedure: Seit fast 40 Jahren fehlt „Der neunzigste
Geburtstag oder Dinner for one“ in keinem Silvester-Programm. Im März
1963 sahen die Deutschen Miss Sophie und ihren Butler (May Warden und
Freddie Frinton) zum erstenmal in der Sendung „Guten Abend, Peter
Frankenfeld“.
Einer wird gewinnen: Die 1964 gestartete Quiz-Show mit der charmanten
Plaudertasche Hans-Joachim Kulenkampff bot anderntags stets Gesprächsstoff.
Der Grund: „Kuli“ flirtete gern und scheute sich nicht, seiner
bevorzugten Kandidatin bei kleinen Wissenslücken zu helfen. Das uferte oft ein wenig aus: Der Moderator war einer
der ersten Überziehungskünstler. Das große Samstagabend-Quiz hielt sich
23 Jahre.
Korrekt: Ob nun
Lottospieler oder nicht: Die Ziehung der Lottozahlen am Samstag (seit
1965) mit der mehr als 30 Jahre amtierenden Fee Karin Tietze-Ludwig war
auch ohne jeden Geldgewinn ein Erlebnis – schon allein wegen des fast
schon genialen Satzes: „Der Aufsichtsbeamte hat sich vor der Ziehung vom
ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgeräts und der 49 Kugeln überzeugt.“
Auf die stete Wiederholung dieser Sequenz konnte man sich wirklich
verlassen!
Raumschiff Orion: Von 1966 an patrouillierte es im Weltall, um die
Erde zu retten. Im schwarz-weißen Einfach-Cockpit saßen Eva Pflug und
Dietmar Schönherr und ließen vor dem Countdown die „Materialkissen
fluten“. Und die Nation rätselte: Kriegen sie sich nun - oder nicht?
Die Flegeljahre: Talkshows wurden 1973 zunächst verschämt am Spätabend
in den dritten Programmen, bei WDR und NDR/Radio Bremen versteckt. Sie
waren gespickt mit gut aufgelegten Prominenten und kantigen Moderatoren,
mit Bosheiten und Amüsement aller Art. Unvergessen der Auftritt von Romy
Schneider in „Je schöner der Abend...“, der ersten aller Talkshows.
Die nach Frankreich übergesiedelte Romy legte ausgerechnet dem einstigen
Bankräuber Burkhard Driest die Hand auf den Arm und sprach mit vollem
Timbre den Satz: „Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sehr!“ Am nächsten
Tag übertrumpfte die Boulevardblätter sich gegenseitig mit
fantasievollen Spekulationen, was denn wohl nach der Sendung geschehen sei
...
Kontraste: 1965 öffnete
der „Beatclub“ und zeigte wilde Rockmusiker aus Amerika; den Gegenpart
des deutschen Spießers übernahm „Ekel Alfred“, gespielt von Heinz
Schubert. Fernsehen made in USA verdanken die Bundesbürger Kultserien wie
„Fury“, „Lassie“, „Bonanza“ oder „Dallas“. Und natürlich
die „Sesamstraße“, die im Januar 30 Jahre alt wird.
Wünsch dir was: Dietmar Schönherr und Ehefrau Vivi Bach moderierten die Familienshow mit
einem Hauch von Abenteuer. 1971 evozierte die Sendung einen handfesten
Skandal: Eine Kandidatin geriet in Lebensgefahr. Sie konnte die Tür eines
in einem Wasserbassin versenkten Autos nicht öffnen und musste von Tauchern befreit werden.
Vorbildlich: Wenn
das „Erste“ etwas wagt, dann richtig. Die Verfilmung von Uwe Johnsons
„Jahrestagen“ (Regie: Margarethe von Trotta) war ein großer
Zuschauererfolg, die jüngste Variante von Real-TV als Geschichtsstunde
„Schwarzwaldhaus 1902“ ein Experiment, das ganz überraschend Quote
machte. Mit dem Dreiteiler „Die Manns – ein Jahrhundertroman“ von
Heinrich Breloer schoss die ARD vor kurzem erst den Vogel ab. Zum
Adolf-Grimme-Preis in Gold und anderen gesellt sich nun auch noch der
internationale Emmy, die höchste Auszeichnung, die die USA für ausländische
Fernsehproduktionen zu vergeben haben.
Einfach Kult: Wunderbare Versprecher der Ansagerinnen und
Nachrichtenhelden, kernige Bonmots und emphatisches „Tooooor“-Gebrüll
der Sportmoderatoren, pfiffige Statements der Bundesliga-Spieler bis hin
zur doppelt gesendeten Neujahrsansprache (1985) von Altbundeskanzler
Helmut Kohl (was außer ihm kaum jemand bemerkte) – all das machte das
Fernsehen richtig sympathisch. ©imke habegger
2002 | General-Anzeiger Bonn 2002
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