Die Ohren dicht am Volkszorn

Hass und Liebe, Lob und Tadel – und alles immer heftig: Seit 50 Jahren sorgt das Boulevardblatt „Bild“ für Gesprächsstoff. Viel hat sich seit Juni 1952 verändert, jedoch nicht das Selbstverständnis, „der Anwalt des kleinen Mannes“ zu sein

„Bild liebt seine Leser!“ sagt der Chefredakteur des Massenblattes, Kai Diekmann, und der muss es ja wissen. Die Liebe wird offensichtlich erwidert. Zumindest schlagen die Herzen vieler der 11,53 Millionen „Bild“-Leser höher, wenn sie die Bilder in „Bild“ betrachten: Der ganze Jammer des Endspiel-Dramas der Champions-League 1999 in Barcelona zum Beispiel, plakativ eingefangen im Tränenflor vor Stefan Effenbergs Augen – zum Mitweinen! 2002 montiert Bild nach dem Sieg über Kamerun Winni Schäfers Haarpracht als „Skalp“ auf Rudi Völlers graue Schläfen und heizt nach Fritz Walters Tod die Stimmung an: „Jungs, jetzt holt für ihn den WM-Titel!“

Der Sport war und bleibt eine Stärke der nach eigener Aussage größten europäischen Zeitung. In Fußball-WM-Tagen, vor allem, wenn Bilder hauptsächlich für zahlende Kunden des Abonnementfernsehens so richtig ans Laufen kommen, wirft Mann – und nicht nur der – täglich gerne einen Blick ins bunte Blatt. Auf der Internetseite des Axel Springer Verlages behauptet „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann denn auch kühn: „Bild hat täglich die höchste Einschaltquote aller deutschen Medien.“

50 Jahre Bildzeitung und kein Ende absehbar. Der Titel immer noch aggressiv rot, der Inhalt oberflächlich informativ, die Lektüre spannend wie eh und je. Nichts, aber auch gar nichts hat Deutschlands führendem Boulevardblatt, das die Ohren dicht am Volkszorn hat, seine Rolle als „Anwalt des kleinen Mannes“ streitig machen können. Als Axel Springer die vierseitige Zeitung am 24. Juni 1952 auf den Markt warf, sah er darin die „gedruckte Antwort auf das Fernsehen“. Noch heute haben „Bild“ und Fernsehen viel gemeinsam, zum Beispiel das Geheimnis ihrer Millionen Anhänger. Wen man auch fragt – keiner hat jemals eine dieser billigen Talkshows im Privatfernsehen gesehen, die vielen Seifenopern erst recht nicht und „Bild“ natürlich nie gelesen, höchstens mal im Urlaub, wenn es gar nichts anderes gab. Stimmt alles nicht! Quoten und Reichweiten in Millionenhöhe machen vor allem eines deutlich: Ihre Lust an Geschichten aus der Rubrik „seicht & leicht“ halten die Deutschen gerne geheim.

Es sei denn, sie gehören den „Prominenten“ an. Viele von ihnen wurden durch „Bild“ erst schön, viele leben, essen und schlafen mit „Bild“. Ein nie unterschriebener Vertrag bindet sie fest an das Blatt. Fette Schlagzeilen sind Messlatten für den Bekanntheitsgrad, dafür wühlen Sensationsreporter bei Bedarf auch gerne abgrundtief im Elend. Ein Mechanismus des Gebens und Nehmens, der schon so manchen Kometen am Himmel der Reichen und Schönen unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurückholte. Trotzdem stehen sie alle immer wieder Schlange, zum Jubiläum in der Reihe der Gratulanten. 

Und was liest man da? Lob, Lob, Lob! „Ober-Luder“ Jenny Elvers rühmt „die schützende Hand“, Edmund Stoiber das „Markenzeichen Deutschlands“, Michail Gorbatschow den „bedeutenden Beitrag zur russisch-deutschen Annäherung“. Uschi Glas findet, „hier wird nicht herumgeredet, hier geht’s zur Sache“ (Schätzchen?), und Inge Meysel (91) bekennt, das bunte Blatt halte sie „jung und auf Trab“. Selbst der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker konstatiert „gute Analysen“. Immerhin spricht er von „Licht- und Schattenseiten“ und kritisiert halbnackte Mädchen und Schlagzeilen über die „persönlichen Seifenopern der Boulevard-Prominenz“. Einzig Udo Jürgens wagt ein kleines bisschen Häme. Am Tag, bevor er 1966 in Luxemburg mit „Merci Chérie“ den „Grand Prix“ gewann, stand riesig auf Seite eins des Blattes: „Udo Jürgens ohne Chancen“. Selbst „Bild“ kann sich irren! Millionen Leser auch?

„Wahr ist, was morgen in der Zeitung steht“. Dieser Satz ist untrennbar mit „Bild“ verbunden und nährt Zweifel, ob alle der Geschichten, die ein Netzwerk von mehr als 1000 Journalisten Tag für Tag zusammenträgt, immer ganz der Wahrheit entsprechen. Einer, der zweifelsfrei beweisen will, dass „Bild lügt“, schreibt den „Aufmacher“: Günter Wallraff arbeitet 1977 als Hans Esser drei Monate in der „Bild“-Redaktion Hannover mit. Anschließend enthüllt er in seinen Büchern fragwürdige Methoden der Redakteure, die unter dem herben Druck, täglich eine Exklusiv-Story heranschaffen zu müssen, das ein oder andere Sensatiönchen ganz ungeniert in den Weiten der Fantasie ausgraben.

2002 kommentiert die PR-Abteilung von „Bild“ die Hans-Esser-Episode in bewährter Kürze: „Die Emotionen schlagen hoch, doch Bild wächst weiter – auf über 4,8 Millionen.“

Den Anti-Bild-Büchern gingen noch härtere Zeiten voraus: die Studenten-Unruhen von 1967/68 kosten das Blatt eine ganze Million Auflage. Die Demonstrationen gegen den Schah von Persien, den Vietnamkrieg und die politische Landschaft in der „BRD“ begleitet die Zeitung unnachgiebig mit Kritik: „Radaumacher“, „Krawallstudenten“. Nach dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg 1967 verlangen die Delegiertenversammlung des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und die Illustrierte „Stern“: „Enteignet Springer!“ Ein Jahr später stirbt Rudi Dutschke. Seine empörten Anhänger („Bild hat mitgeschossen“) versuchen, die Auslieferung von „Bild“ und anderer Erzeugnisse des Springer-Verlages zu verhindern. Lieferwagen brennen, Fenster gehen zu Bruch, Straßenschlachten. Damals schreibt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Auf der Strecke bleiben zwei Tote, 400 Schwer- und Leichtverletzte und der Anspruch der Bundesrepublik, ein demokratischer Staat zu sein.“

1972 geht im Hamburger Springer-Hochhaus eine Bombe der „Roten Armee-Fraktion“ (RAF) hoch. Im gleichen Jahr bezeichnet „Stern“-Chef Henri Nannen die Springer-Redakteure als „professionelle Fälscher“, was ihm keine Anzeige einträgt. „Bild” fordert Atomwaffen für Deutschland, und während der großen Friedensdemonstrationen Anfang der 80er gesellt sich zu der weißen Friedenstaube oft ein Anti-Bild-Aufkleber. Das Massenblatt bleibt Lieblingsfeind der Linken. Heute resümiert der Deutschlandsender „Deutsche Welle“ in seinem Internet-Kalenderblatt: „Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Böll, Günter Wallraff und die gesamte Außerparlamentarische Opposition konnten dem Blatt nicht ernstlich schaden.“

„Bild“ über „Bild“ 2002: „Heute ist Bild eine Zeitung der Superlative. Die größte Zeitung Europas und die drittgrößte der Welt erreicht täglich mit durchschnittlich über vier Millionen verkauften Exemplaren knapp zwölf Millionen Leser.“

An „Bild“ kommt niemand so leicht vorbei. Schon allein, weil die Schlagzeilen aus den vielen roten Verkaufsautomaten jeden im Vorüberfahren „anspringen“. 72 Punkt und größer. In ihrer Schlichtheit sogar oft einzigartig: „Rudi, haudi Saudi“ nehmen die Nationalfußballer so ernst, dass sie gleich achtmal zuschlagen. Nach dem Mauerbau 1961 titelt „Bild“: „Der Westen tut NICHTS“. Oder 1969 nach der Mondlandung der USA: „Der Mond ist jetzt ein Ami“. Die Post erhöht in den Sommerferien die Telefongebühren: „Holt den Bundestag aus dem Urlaub“, fordert „Bild“. Die Abgeordneten reisen tatsächlich heim und stornieren den Beschluss. Macht ist verführerisch. Als Axel Springer 1965 darüber nachdenkt, den legendären „Bild“-Preis von einem Groschen zu erhöhen, überlegt er allen Ernstes, ob der Bund nicht dafür eine 15-Pfennig-Münze prägen könnte. Dazu kam es dann doch nicht. Heute kaufen 4,3 Millionen „Bild“ für 0,40 Euro. Und mit den Schlagzeilen verdient sich Deutschlands „Letterman“ Harald Schmidt regelmäßig Lacher, wenn ihm sonst nichts zu interpretieren einfällt.

Immerhin, die Vergangenheit kann auch „Bild“ einholen. Auch „Bild“-Redakteure werden jünger, dafür sorgte der heutige Verlagsvorstandsvorsitzende Mathias Döpfner. Als die neue Riege sich im Januar 2001 auf Außenminister Joschka Fischers Vergangenheit in den 60er Jahren einschoss, nahm ihnen ausgerechnet einer, der selber zehn Jahre lang (1961-1971) den „Bild“-Redakteuren als Chef vorsaß, den Wind aus den Segeln. Peter Boenisch (75) kommentierte: „Fischer war, wie er war, und er ist, wie er ist.“ „Altersgüte“ oder Rache? Immerhin prozessiert Boenisch gegen den Springer-Konzern. Egal: Die jungen Ahnungslosen mussten einsehen, dass es nicht klug ist, die eigene Vergangenheit zu wecken. „Pepe“ Boenisch übrigens war der Mann, der erst das Teenager-Magazin „Bravo“ aufmöbelte und dann die „Bild“-Auflage auf Millionenhöhe trimmte – mit News aus Hollywood, Sport und Kaiserin Soraya als Titelstar. Nach der deutschen Vereinigung 1989 schreibt „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein: „Bild ist geworden, was es früher nicht war: eine informative Zeitung, die nicht zu lesen auch ich mir nicht erlauben könnte.“

Für die „Wiedervereinigung“ sind „Bild“ und Axel Springer von Anfang an eingetreten. In vielen seiner Zeitungen wurde das Kürzel DDR nur in Anführungszeichen gedruckt. Die bewegenden Bilder von der wankenden Mauer hätten ihn mit tiefer Genugtuung erfüllt. Doch er starb bereits 1985. Ihn würde sicher auch freuen, dass seine fünfte Ehefrau Friede heute die Fäden des Verlags in der Hand hält. Über sie sagte er mehrfach, sie sei eine der wenigen, die ihn wirklich verstehe. Weniger Freude würde ihm die wirtschaftliche Situation des Konzerns bereiten. Die Springer-Bilanz 2001: erstmals ein Konzern-Verlust von 198 Millionen Euro. Ein Sparkurs soll nun Konsolidierung bringen. „Bild“ allerdings ist bei den Auflagenrückgängen der kleinste Verlierer. „50 Jahre Bild – das sind 50 Jahre Erfolgsgeschichte einer Boulevardzeitung, die nach dem Willen ihres Gründers die Herzen der Menschen erreichen sollte und erreicht hat“, sagt Vorstandsvorsitzender Döpfner.

Die Figur des Gründers war ähnlich umstritten wie das Blatt, das er schuf. „Der Verleger“, so der Titel eines 2001 ausgestrahlten Fernsehspiels über ihn, hatte vor 50 Jahren eine Vision: eine Tageszeitung, in der jede Story jeden Leser interessiert und die das Weltgeschehen hauptsächlich über Bilder vermittelt. Die Bildergalerien des Startjahres erwiesen sich als Flop. Von 1953 an wurde mehr geschrieben, 1954 erreichte die Auflage erstmals Millionenhöhe. Die Mischung, die dem Leser direkt ins Herz gehen soll, ist die gleiche geblieben: Sex und Verbrechen, Tratsch und Klatsch, Sport und Politik, Tiergeschichten („Lilly ist eine gute Kuh“). Bis heute bleiben alle Texte extrem übersichtlich.

Seit die Kritik der Literaten ausbleibt, obliegt es dem Deutschen Presserat in Bonn, öffentlich zu kritisieren. Von 293 Rügen, die in den vergangenen 30 Jahren ausgesprochen wurden, ging jede vierte an „Bild“, überwiegend wegen Missachtung von Persönlichkeitsrechten oder mangelnder Sorgfaltspflicht. „Wo gearbeitet wird, geschehen Fehler“, sagt dazu Chefredakteur Diekmann.

Axel Springer fand sein eigenes Blatt nicht immer nur toll. In einem Interview mit dem Journalisten Ben Witter gestand er: „Wie oft leide ich, wenn ich morgens die Bild-Zeitung lese.“ Dieses Leid fühlt auch heute noch mancher Leser – nicht immer, aber immer wieder.

©imke habegger 2002 | General-Anzeiger Bonn 2002