Brav, putzig, sauber?
Wenn Kinder dichten und reimen
"Itzen ditzen Silberspitzen. Itzen ditzen daus - und du bist
raus." Ein Abzählreim mit nahezu dadaistischem Silbenspiel, einer von hunderten, die
Kinder sich aussuchen, um zu entscheiden, wer anfängt beim Hüppekästchen- oder
Versteckspiel. Das geht auch mit "Eene meene miste", mit "Eins, zwei, drei,
Butter mit Ei" oder deftiger
"Alexander, Arsch auseinander, Arsch wieder zu, raus bist du".
Mündliche Kinderlyrik hatte es dem Hochschullehrer und Erzählforscher
Helmut Fischer aus Hennef/Sieg angetan. Was Kinder austauschen, wenn sie unter sich sind,
wollte er nicht nur wissen, sondern auch schwarz auf weiß festhalten. Kein leichtes
Unterfangen, weil Kindermund nicht auf Befehl übersprudelt. Dennoch: 845 sechs- bis
zehnjährige Schulkinder aus Essen haben Fischer ihre Lieblingsverse anvertraut, darunter
auch Reimereien, die sie allenfalls flüstern, wenn Lehrer, Eltern und andere
Respektspersonen in Hörweite sind.
Obwohl sie - fast - lebenswichtig ist. Der alltägliche Umgang mit Lied
und Reim intensiviert den kindlichen Entwicklungsprozess: Mündliche Literatur ist ein
entscheidendes Mittel der Kommunikation und Sozialisation. Gereimte und erzählende Texte
bieten nicht nur Verhaltensmuster an, sondern wecken auch die Fantasie. Nicht ohne Grund
beklagen Pädagogen und Psychologen das Schwinden der Erzählkultur im Kinderzimmer.
Künstlich aufbereitete Menüs aus Fernsehen, Video oder Tonkassette verdrängen das aus
der Kindheitserinnerung der Eltern auferstehende Liedchen und die mit dem Kind
improvisierte Gutenachtgeschichte.
Ist das Repertoire im frühen Kindesalter spartanisch, wächst es später
mit der Anzahl der Spielkameraden. Fischers Ausbeute in 25 Essener Grundschulklassen
zwischen 1983 und 1986: 2 210 Texte, davon 1 594 Reime, Lieder und Spiellieder und 616
Rätsel, Scherzfragen und Witze. Die enorme Bandbreite der Sammlung verdankt Fischer
seinem ernsthaften und offenen Umgang mit den Kindern. Er besuchte sie in der Schule, bot
den Kindern Rollentausch an, "ihr seid die Lehrer", und motivierte sie mit einer
pantomimischen Darstellung. Sofort tippten die Grundschüler ins Schwarze:
"Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, das bist du."
Natürlich kannten sie noch mehr solcher Reime, und nach anfänglichem
Zögern folgte Vers auf Vers: Das Eis war gebrochen.
Wie "Itzen ditzen" ist auch
"Antchen dantchen Dittchen dattchen ebberdi bebberdi Bumm -und du
bist dumm"
ein schönes Beispiel für Lautspielreime, "Eene meene muh"
gehört dazu und "(Z)Icke (z)acke, Hühnerkacke". Der Suchende beim
Versteckspiel zählt
"Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein",
unter der "lachenden kleinen Dickmadam" kracht die Eisenbahn,
"Ilse Bilse" kriegt ihren Koch, die "Soldaten schießen mit Tomaten",
"Fischers Fritz fischt frische Fische", das "Paradekissen" muß
allerhand aushalten, und der "ausgestopfte Teddybär", der das Brot trank und
die Milch aß, ist offenbar nicht totzukriegen. Einzelne Zeilen der überlieferten Reime
werden modernen Zeiten angepasst, komplette Verse entstehen neu. Kinder agieren mit dem,
was sie aufschnappen, plappern nach:
"Parkst dein Auto du in Essen, kannst dein Radio gleich
vergessen."
"Elvis ist tot, Travolta ist krank, Popper sind Schweine, es lebe der
Punk."
Bei "Weg mit dem Lehrer! Freier Blick zur Tafel" standen die
68er-Sprüche Pate, und im "Dracula-Lied" tanzen die Leichen neben Rock 'n' Roll
auch Gummitwist.
Spiellieder sind eine Domäne der Mädchen. Jungen wollen, je älter sie
werden, mit dem "Weiberkram" nichts zu tun haben. Zum Beispiel das erwähnte
"Eins, zwei, drei, vier Dracula...". Verschiedene kulturelle Elemente fließen
zusammen, Kinder entfalten ihre ganze schöpferische Kraft: Die Geschichte des Grafen
Dracula ist aus Comic und Film übernommen, die Melodie stammt von Bill Haley's Hit
"Rock around the Clock". Die Mädchen klatschen bei jeder Achtelnote
nacheinander auf die Oberschenkel, in die eigenen Hände, in die Hände des Gegenübers,
auf die Oberschenkel, in die eigenen Hände und in die Hände der Partnerin. Bei
"Johnny komm, wir fressen eine Leiche...", der "Sentimental Journey"
nachgesungen, wird im Kreis geklatscht, und bei dem Lied "Bei Müllers hat's
gebrannt, brannt, brannt. Da bin ich hingerannt, rannt, rannt. Da kam ein Polizist, zist,
zist. Der schrieb mich auf die List, List, List..." steigert der Klatschrhythmus sich
von Strophe zu Strophe. Fischer: "Machen Sie das mal nach!"
Als Fischer seine Erhebung machte, waren neben Ostfriesen-Witzen die
"Alle"-Reime en vogue. Kostprobe:
"Alle Kinder sitzen um das Feuer, nur Brigitte sitzt in der
Mitte."
"Alle Kinder rennen über die Straße, nur nicht Rolf, der klebt vorm
Golf."
"Alle Kinder sind gesund, nur nicht Peets, der hat Aids."
Das klingt gar nicht mehr so niedlich. Die Welt der Kinder bleibt nicht
frei von Feindschaft, Hass und Zynismus und spiegelt auch Vulgäres trefflich wider - weit
weg von der Idylle aus "Des Knaben Wunderhorn".
"Was ist Kunst? In einem runden Haus in die Ecke pinkeln und Kotze an
die Decke nageln."
Oder: "Scheiße auf der Lampenschale gibt gedämpftes Licht im
Saale."
Oder: "Licht aus! Licht aus! Papa holt den Dicken raus. Mamma macht
die Scheide auf. Einmal rein, einmal raus, fertig ist der kleine Klaus."
Das soll Kindermund sein?
Mit vulgärem und obszönem Sprachschatz stellen Kinder ihren Mut und ihre
Kraft auf die Probe. Er ist auch eine Reaktion auf Widersprüche im Verhalten der
Erwachsenen, die selber Verbote brechen, von Kindern aber Gehorsam und Anstand verlangen.
Die sind keineswegs so naiv, dass sie nicht um die Empörung wüssten, die solche Sprüche
bei Erwachsenen auslösen. Untereinander aber tauschen sie sie aus, wenn auch ganz leise,
und freuen sich diebisch über den Regelverstoß. Ihr Vorbild sind die Erwachsenen -
logischerweise auch solche, die sich in feuchtfröhlicher Runde vor Vergnügen an
obszönen Witzen ungezügelt auf die Schenkel schlagen.
Nur etwa zehn Prozent seiner Sammlung, hat Fischer ausgerechnet, sind
Texte mit Tabuwörtern, die Körperausscheidungen und das Sexuelle umschreiben. Sie
sorgten gleichwohl für Aufregung und Empörung. Fischer wurde, wie er amüsiert
berichtete, vorgeworfen, er habe den Kindern die obszönen Verse durch einschlägige
Beispielvorgabe in den Mund gelegt. "Die Welt der Kinder ist ein Abklatsch der
Wirklichkeit", konstatiert der Forscher aus Hennef. Es sind die Erwachsenen, die sich
das Wunschbild von der niedlichen und heilen Kinderwelt zurechtlegen. So wären sie selber
gern: Brav, putzig und sauber. Und schließlich lassen sich gestandene Weibs- und
Mannsbilder nicht sonderlich gerne den Spiegel vorhalten - schon gar nicht von ihren
Kindern. Tatsache ist, dass Kinder zu allen Zeiten gegen jeweils herrschende Tabus
verstoßen haben. Nach unserem Verständnis "unanständige" Texte werden aber
erst in jüngerer Zeit aufgeschrieben und veröffentlicht. Peter Rühmkorf und Ernest
Bornemann etwa haben sich der "verbotenen" Kinderliteratur angenommen. Die
Konfrontation mit dem Gedruckten ist das Ungewöhnliche, nicht der Inhalt.
Die Lektüre der restlichen 80 Prozent erlaubt einen lehrreichen Blick in
die kindliche Alltagswelt, die auch Eltern unter den Erwachsenen oft Rätsel aufgibt, und
macht einfach Spaß:
"Adam und Eva saßen auf dem Sofa. Sofa krachte, Adam lachte. Eva
schrie wie noch nie. Da kam der Doktor Rullerullerutsch mit seiner Schwester
Killekillekitsch, mit seinem Bruder Boxboxbox, der war ein alter Ochs, Ochs Ochs."
Nützlicher Nebeneffekt: Viele Sprüche aktivieren brachliegende Schätze
aus der eigenen Kindheit.
"Du bist groß, dafür doof. Ich bin klein, dafür fein."
Da kribbelt es in den Gehirnzellen: "DBDDHKP-UAKA." Nicht
geläufig? Das ist die Abkürzung für
"Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen - und auch kein
Aspirin."
Letztendlich kommt der Leser ums Denken (nicht) herum:
"Denke, nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist
gedankenloses Denken. Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, aber
richtig denken, das tust du nie."
Buchtip: Helmut Fischer, Kinderreime im Ruhrgebiet, Rheinland-Verlag,
Köln, 278 S., mit Notenbeispielen, 48 Mark. |
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