Nie ohne Kartoffeln
Ein Streifzug durch rheinische Küchen offenbart mehr als
typische Gerichte
Sieben, zehn, zwölf, vierzehn, neunzehn: Keine Zahlenreihe, sondern
Uhrzeiten. Der rheinische Magen knurrte pünktlich. Frühstück, "Zehnührchen",
Mittagessen, Kaffeetrinken, Vesper, Abendbrot: Die Zeiten variierten geringfügig, Kaffee
wurde mancherorts auch erst um vier serviert. Was heißt schon Kaffee? Mit viel Glück
oder wenn Gäste kamen, wurden auch ein paar Kaffeebohnen mitgemahlen, ansonsten
zerkleinerten die Bäuerinnen in ihrer zwischen die Knie geklemmten Handmühle Gerste,
Zichorien oder Bucheckern. Muckefuck oder Blümchenkaffee hieß der Aufguss, der die rare
schwarze Bohne ersetzte.
Ein Streifzug durch rheinische Küchen offenbart viel mehr als typische
Gerichte. Himmel un Ääd, Hütschpott, Kuschelemusch, Puttes: Hinter den fantasievollen
Namen verbirgt sich die Kunst, mit allem, was der Acker hergibt, immer wieder aufs Neue
den Gaumen anzuregen. Oder aus den Resten vom Wochenende eine schmackhafte Montagsmahlzeit
zu kochen. Vor allem aber Niemanden merken zu lassen, wenn in einem Haushalt gespart
werden muss.
Was wird wann wie gegessen? Autor Berthold Heizmann hat mit seiner
Publikation "Die rheinische Mahlzeit" das Puzzle vom rheinischen Alltag
vervollständigt. Aus mehr als 300 Berichten von Köchinnen und Topfguckern köchelt ein
neues "Kuschelemusch" vor sich hin. Nahrungskultur aus gut 80 Jahren. Zutaten:
Nahrungsbeschaffung, Vorratshaltung, Konservierungsmethoden, Tischsitten, Alltagsgerichte,
Festtagsspeisen. Nachgeschmack: Der augenfällige Wandel der Nahrungskultur von der
Selbstversorgungsgesellschaft mit regionalen Märkten zur globalen Agrar- und
Ernährungsindustrie.
Tiefkühltruhen, Fertiggerichte und Anleihen an den Küchen in aller Welt
beeinflussten das Essverhalten genauso wie die Veränderungen in Familie und Gesellschaft.
Frauen stehen heute nicht mehr so häufig am Herd und greifen, weil es schneller geht, zu
Tiefkühlkost, anstatt Tag für Tag aufwendige Mahlzeiten aus frischen Zutaten zu
servieren. Das typisch Rheinische schwindet, auch, weil es jederzeit alles zu kaufen gibt.
Die Familien sind kleiner geworden, die Erwartungen haben sich verändert.
Der moderne Hobbykoch (immer öfter männlich) kauft gezielt im
Delikatessen-Shop ein und testet Rezepte für bissfeste Tagliatelle mit Lachs, mit
Shrimps, mit dezentem Knoblauch-Basilikum-Aroma. Oder versucht, das Lammragout im
türkischen Spezialitätenrestaurant an Wohlgeschmack zu übertreffen. Eher selten
konzentrieren Feierabendköch(inn)e(n) ihre Künste auf Puttes oder "Gold und
Silber", was auch daran liegen mag, dass die einfachen Zutaten den gestiegenen
Ansprüchen nicht mehr genügen.
Und was kam in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rheinland auf
den Tisch? Sonntags Fleisch (vom Bauern), freitags Fisch (aus dem Rhein), montags die
Reste vom Sonntag - und ansonsten Rübenkraut zwischen Schwarz- und Graubrotscheiben,
Suppen, Eintopf, Gemüse aus dem Garten und Kartoffeln in x-tausend Variationen. Erdäpfel
tauchten auch im Brot und im Kuchen auf, wenn das Mehl knapp wurde.
Ob nun "Himmel un Ääd" am Großfamilienmittagstisch oder
Pommes "ruut/wieß" auf die Schnelle: Die Kartoffel kittet den Bruch in der
Nahrungskultur. Die einstige Armeleuteknolle mauserte sich zu einem Standbein der
"haute cuisine". Ihre Vorzüge: fast gar kein Fett, hoher Eiweißgehalt,
Ballaststoffe, Vitamine, Mineralstoffe. Wer sich vier Wochen ausschließlich von
Kartoffeln ernährt, braucht keine Mangelerscheinungen zu befürchten. Eher schon
Nervenentzündungen im Unterarm - vom Raspeln für Rösti und Riivkooche! |
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