Auf der Heukarre nah am Himmel
Kindheit, Brauchtum und Alltag auf einem Bauernhof am
Niederrhein
Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der liest sie auf, der
trägt sie nach Haus, und der kleine (Finger) isst sie alle auf." Der bekannte
Kinderspruch ging auf dem Bauernhof anders: "Däumling hat eine Kuh gekauft,
Zeigefinger hat sie nach Hause gebracht, Mittelfinger hat sie abgestochen, Ringfinger hat
Wurst gemacht, und das kleine Fingerchen hat sie alle aufgefressen." Wir sind am
Niederrhein, in Holderberg bei Kapellen, das inzwischen zu Moers gehört. Das Jahr 1923
hat gerade begonnen. Großvater Biefang vertreibt seinem Enkelkind Katherinchen, das
Löcher in die Eisblumen am Fenster haucht, die Langeweile.
Auch im Winter, wenn eisige Winde über die verschneiten Felder streichen,
ruht die Arbeit auf dem Hof nicht. Jaan und Mimi Biefang, Katharines Eltern, sind von
früh bis spät beschäftigt. Das vierjährige Mädchen bliebe sich selbst überlassen,
wenn der Großvater, rüstig zwar, aber für schwere Arbeit zu alt, nicht von Anfang an
einen Narren an ihr gefressen hätte. Er ist ihr Spielkamerad. Ersatz für andere Kinder,
die der strenge Vater auf seinem Hof nicht duldet.
Opa und Enkelin sind unzertrennlich. Sie spielen zusammen und machen sich
nützlich. Gemeinsam bringen sie dem Vater die Butterbrote aufs Feld, gemeinsam füttern
sie die Hühner. Der Alte bringt dem Kind bei, wie die Körner richtig ausgestreut werden.
Katherinchen sucht und sammelt die Eier. Sie packt sie in den Puppenwagen, damit sie nicht
kaputtgehen, und karrt sie in die Küche. Dort schält der Großvater Kartoffeln und
kümmert sich immer dann ums Essen, wenn Mutter Mimi auf dem Feld hilft oder vom
Einmachfass nicht wegkommt.
"Der Großvater und ich", seufzt Katharine Specht geb. Biefang,
80 Jahre heute und immer noch ein Wirbelwind. Sie streicht über die gedrechselten
Holzpfosten des trutzigen Himmelbetts, an dessen Kopfende zwei Engel sich mit kleinen
Trompeten den Frieden zublasen. "Die Zeit mit dem Großvater war meine
schönste", sagt sie, inzwischen selbst Urgroßmutter. Sie weist auf das Bett, das in
ihrem Arbeitszimmer steht. "Hier steckten wir zusammen unterm dicken Federbett und
der Großvater hat erzählt. Tolle Geschichten kannte der und wahre, denn von Märchen
hielt er nichts."
Den Sinn für Geschichten und das gute Gedächtnis muss der Großvater der
Enkelin vererbt haben. Katharine Specht hat ihre "schönste Zeit" zwischen
1923/24 und 1930 jetzt aufgeschrieben, in waschechtem Grafschafter Platt. Dass ihre
Geschichten als Buch erschienen sind ("Maikirschen", Rheinland-Verlag,
vergriffen), ist ihr immer noch ein bisschen unheimlich. "Ich weiß gar nicht, wen
das interessieren soll", sagt sie bescheiden.
Viele Menschen! Die Autorin hat ein Werk geschaffen, das es in dieser Form
bisher nicht gab und das bestehende Lücken in der Geschichte der rheinischen
Alltagskultur füllt. Wie ging es zu auf einem rheinischen Bauernhof, welche Arbeiten
wurden wie verrichtet? Wie lebten die Bauern? Wie zogen sie ihre Kinder groß. Wie wurden
die Alten versorgt? Was gab es zu essen? Lauter Fragen, auf die Katharine Specht Antworten
gibt. Ihr unglaubliches Gedächtnis hat jedes Detail gespeichert. Episode für Episode
entsteht so ein umfassendes Bild des bäuerlichen Alltags.
Wenn die Kleine morgens aufsteht, arbeitet der Vater schon auf dem Feld,
hat die Mutter die Kühe gemolken, Stube, Waschküche und Schweinegang gefegt und macht
nun auf der Tenne Ordnung. Das Kind frühstückt in der warmen Küche mit dem Großvater.
Zuerst Milchsuppe, dann Weiß- und Schwarzbrot übereinander mit Rübenkraut. Nach dem
Frühstück schnell nach draußen - am liebsten mit Loti. Der kleine Mischlingshund ist
ihr ein und alles und lässt sich sogar im Puppenwagen spazieren fahren.
In der Küche wird schon das Mittagessen zubereitet. Punkt zwölf hat der
Bauer Hunger. Dann wird gegessen - ob gar oder nicht gar. Meistens gibt es
Gemüse-Durcheinander mit Fleisch oder Schinken vom Schwein, "das hält am längsten
vor", sagt der Bauer.
Am Abend wird noch einmal warm gegessen, Kartoffeln und Kohl
durcheinander, danach, falls vom Morgen noch übrig, Milchsuppe mit Brotstückchen. Nach
dem Essen sitzt Katharines Vaters dicht am warmen Ofen, kippelt mit seinem Stuhl und
fängt laut an zu schnarchen, wenn er eingeschlafen ist. "Jaan, geh ins Bett",
brummt dann der Großvater.
Zur Zeit der Heuernte ist alles anders. Nein, nicht alles: Der Vater
beginnt womöglich noch früher am Abend zu schnarchen, todmüde von der Arbeit im Freien.
Die ganze Familie zieht morgens hinaus aufs Feld. Mittagsbrot und Kaffee aus gebrannter
Gerste werden mitgenommen. Am Vorabend schon hat der Bauer die Sensen gedengelt und das
Messer der Mähmaschine geschliffen. Ehe das Pferd Meeta mit der angehängten Mähmaschine
über die Wiese geführt wird, muss mit der Sense angemäht werden. Das gemähte Gras wird
von Hand mit Heugabeln angehoben und gelockert, damit es schneller trocknet.
Zum Schluss wird die Heukarre beladen. Die Bäuerin steht oben und
verteilt das Heu, das der Bauer mit der großen Gabel angibt. "Man musste aufpassen,
dass man dem Pferd nicht ins Kreuz oder in die Beine lud", erinnert sich Frau Specht.
Ein herrliches Gefühl, ganz oben, nah am Himmel, auf dem Heu zu sitzen, wenn Meeta die
Karre heimwärts zieht. Kirchtürme am Horizont, die Höfe ganz klein. Mit der Hand
grabscht Katherinchen in die Zweige der Bäume und lässt die Blätter fliegen. Der Wind
zieht die widerspenstigen Haare aus den Zöpfen. "Krauses Haar und krauser Sinn, da
steckt der Teufel drin", heißt es dann.
Zu Hause wird die Karre dicht an die Heubodentür herangefahren. Die
Mutter klettert hinauf, und der Vater reicht das Mädchen nach. Katherinchen darf das Heu
mit fest treten. Das muss schnell gehen, denn die zweite Fuhre soll auch noch ins
Trockene, ehe es regnet.
Nach so einem Tag sind alle erledigt. Tage wie diese sind nicht selten auf
dem Hof. Die Getreideernte ist noch aufwendiger, kostet noch mehr Kraft, obwohl
Arbeiterfrauen angeheuert werden, die helfen. Das Rübenfeld muss sorgsam gepflegt werden.
Rübenziehen strengt an, und es dauert Stunden, bis die Rüben in Doppelreihen ausgelegt
sind und auf die Kippkarre geworfen werden können.
Das Wetter muss auch mitspielen. "Wie steht der Mond, welches Licht
haben wir, woher weht der Wind? Danach schauten die Bauern immer", berichtet Frau
Specht. "Die Feldarbeit hatte ihren fest gefügten Rhythmus."
Kartoffeln werden ausgemacht und vor dem Verkauf sortiert:
Speisekartoffeln, Kartoffeln für die Schweine, Pflanzkartoffeln. Im Garten stehen
Obstbäume, werden Bohnen, Möhren und Erbsen gesät und gepflegt. Das Getreide muss
gedroschen werden. Der Großvater machte das noch mit dem Dreschflegel, jetzt kommt einer
aus Moers-Asberg mit dem Dampfdrescher. "Das war eine Drecksarbeit", erinnert
sich Frau Specht. "Sie dauerte einen Tag, und dann war das Korn im Speicher."
Wenn die Familie nach Kräfte zehrendem Tageswerk vom eigenen Acker oder
den angepachteten Feldern auf den Hof zurückkehrt, ist im Stall die Hölle los. Die Kühe
haben Hunger und muhen "faule Magd, faule Magd", wie der Großvater das Gebrüll
deutet. "Gib der Kuh nur gutes Futter, gibt sie dir viel Milch und Butter", ist
eine der Bauernregeln, die die Enkelin von ihm lernt.
Gemolken wird noch
mit der Hand, das ist meistens Frauenarbeit. Umso schlimmer, wenn ein Tier Zicken hat.
Katherinchen erlebt es mit: Die Alma, die der Vater von einem Kleinbauern gekauft hat, der
bei der Vluyner Eisenbahn arbeitet, will sich nicht melken lassen. Sie lässt die Bäuerin
nicht an sich heran. Ein Viehkaufmann, der gerade vorbeikommt und den früheren Besitzer
kennt, hilft mit einem Tipp weiter: "Der hatte doch immer diese Bahnmütze auf."
Mit Großvaters alter Kappe sitzt die Bäuerin fortan auf dem Melkschemel - und Alma
"steht still wie ein Pfahl".
Da ist auch noch Pauline, ein Ferkel, das im Haus großgezogen wird,
zutraulich, sauber und klug. Sein Schlafplatz ist eine Kiste am Ofen. Aus dem Ferkel wird
eine prächtige Sau, die das Haus schließlich verlassen muss. Irgendwann passt einer
nicht auf und lässt die Dielentür offen. Pauline flitzt im Schweinetrab in die Küche
und beginnt, wie früher, auf den Knien die Krümel unterm Tisch aufzulecken. Als die
Bäuerin das Schwein entdeckt und losschimpft, bekommt Pauline einen gehörigen Schreck.
Sie richtet sich hastig auf - und hat den Küchentisch auf dem Buckel. Die Kaffeekanne
fällt um. Porzellan scheppert. Das Tier quiekt, lautes Gezeter. Nur der Bauer bleibt
ruhig: "Die Sau muss weg." Weil keiner auch nur einen Bissen von Pauline
hinunterbekäme, wird das Schwein anderntags in Kapellen verkauft. Der Großvater muss
Katherinchen trösten.
Katharine Specht hat oft von ihrer Kindheit erzählt, an Festtagen, wenn
die ganze Familie am runden Tisch versammelt saß. Die drei Töchter und deren Kinder
fanden das so spannend, dass sie der Oma zuredeten: "Schreib das doch mal auf, damit
wir später noch etwas davon haben."
Tatsächlich setzte Frau Specht sich - das war 1983/84 - abends hin und
schrieb. Oft bis tief in die Nacht, mit der Hand und auf Platt. "Auf Hochdeutsch
wäre das nicht gegangen; in Deutsch war ich nie besonders gut", schmunzelt sie.
Wie ging Katherinchens Leben weiter? Großvaters Tod 1930 war ein böser
Schlag für die Elfjährige. Sie machte ihr "Einjähriges" am Lyzeum in Moers,
besuchte ein Jahr die Frauenschule in Krefeld und arbeitete dann auf dem elterlichen Hof.
In harten Kriegszeiten lernte sie ihren Mann kennen - durch Briefkontakte. Wie damals
üblich, wurden den Soldaten Adressen von jungen Frauen aus der Heimat vermittelt, und so
geriet Heinz Specht an Katharine Biefang. Sie heirateten 1941.
In der Nachkriegszeit musste der elterliche Hof, auf dem die Spechts nun
wirtschafteten, wiederaufgebaut und hochgepäppelt werden. Heinz Specht setzte sich mit
seinen "neumodischen" Ideen - verstärkter Gemüseanbau, eigene Schlachtung -
gegen Vater Jaan durch, der die Anpassung an moderne Zeiten nicht verkraftete. 1959 starb
Katharines Mutter, den Vater pflegte sie bis zu seinem Tod zehn Jahre später.
1973 zogen die Spechts auf den Bauernhof aus dem 16. Jahrhundert in
Holderberg. Mit enormem Finanz- und Arbeitsaufwand haben sie das Schmuckstück
restauriert, es sollte ihr Altersruhesitz werden. Auch eine der drei Töchter lebt mit
ihrer Familie auf dem Hof. Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, seit der Hausgiebel sich
bedrohlich neigt - eine Folge des Kohleabbaus. Die Zechen haben die regionalen Strukturen
am Niederrhein im Laufe der Jahre völlig verändert.
Kein Wunder, dass Katharines Gedanken immer wieder in die Kindheit
schweifen. Der elterliche Hof ist heute vermietet. Dort haben die Holderberger Schützen
ihr Haus. Mobiliar wie Schränke und Großvaters Himmelbett hat Frau Specht mitgenommen,
außerdem eine Fülle von Erinnerungsstücken, die dem Gedächtnis auf die Sprünge
helfen. Sattelzeug und Ochsenjoch schmücken die Wände, und in der Diele steht die Pumpe,
die nun kein Wasser mehr ausspuckt.
"Hier habe ich mich jeden Morgen gewaschen." Wenn Katharine
Specht den Schwängel in die Hand nimmt, entsteht im Geist das Bild vom Katherinchen, das
sich in der Schule vorstellte: "Ich heiße Katharine Biefang, mein Vater pflügt
gerade das Feld, und gestern hat er Mist gefahren." Die Klasse brüllte vor Lachen.
Katherinchen bekam einen roten Kopf und den Spitznamen "Kuhschwanz". Den wurde
sie nicht wieder los. |



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