Das unbeugsame Gretchen

Gretchen hat es faustdick hinter den Ohren. Kein Tag vergeht, an dem der Wildfang nicht irgendeinen Unsinn anstellt. Den Eltern steht schon die pure Verzweiflung in den verhärmten Gesichtern. Doch an Gretchen perlt alles ab, auch die Aussicht, dass Gott sie bestrafen wird. Das glaubt sie einfach nicht. Zur Sicherheit probiert sie es aus. Und siehe da: Kein Anzeichen von Strafe, stattdessen wird in einer gefährlichen Situation ihr Leben gerettet. Ein kesser Mädchentyp ist Hermann Schulz da eingefallen: selbstbewusst, unbeugsam und renitent. Dorota Wünsch lässt Gretchens Minenspiel mit sparsamen Strichen Bände sprechen. Selbst wenn nur sein Fuß im Bild ist, bleibt das Charakter-Gör präsent. Empfehlenswert!

Hermann Schulz/Dorota Wünsch (Ill.): Ein Apfel für den lieben Gott. Peter Hammer Verlag, Wuppertal. 32 Seiten, 13,90 Euro

Freundefresser

Freundschaften, die ein ganzes Leben halten, sind wertvolle Verbindungen. Die Freundinnen Florence Seyvos und Anais Vaugelade wollten diesen Wert dokumentieren und haben sich einen richtig schweren Fall ausgesucht: Ihr grüner Tyrannosaurus frisst nämlich seine Freunde, auch wenn sie besonders nett zu ihm sind. Hinterher tut es ihm furchtbar leid, aber immer wieder siegt sein gigantischer Appetit. Da erscheint ein winziger Kuchenbäcker im Wald und verändert das Leben des einsamen Dinos gründlich. Eine anrührende Geschichte, mit hintergründigem Witz erzählt und gezeichnet.

Florence Seyvos/Anais Vaugelade: Freunde fürs Leben.
Moritz Verlag, Frankfurt/Main. 36 Seiten, 13,80 Euro

Pferde in Pyjamas [nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2005]

Zebras sind Pferde in Pyjamas? Giraffen haben so lange Hälse, weil sie die Spaghetti immer ungekocht verschlingen? Merkwürdige Antworten auf die kindertypische Frage nach dem Warum. Lila Prap hat sich zu jeder Warum-Frage fünf bis sechs Antworten ausgedacht. Eine davon ist immer korrekt, die anderen ziemlicher Unsinn. Aber witzig sind sie und so einfach, dass Kinder leicht noch weitere „dumme“ Antworten dazuerfinden können. Praps Fauna ist zudem eine Ansammlung von wilden Charaktertieren, wie das Foto beweist. Ein herrliches Buch für ausdauernde Fragensteller.

Lila Prap: Warum? Bajazzo Verlag, Zürich. 40 Seiten, 13,90 Euro

Tiermagnete

Bauer Kuddelmuddel sieht nicht besonders glücklich aus, wenn er über seinen Hof streift. Sein Standardspruch: „Was für ein Durcheinander!“ Viel mehr sagt er nicht, denn er wartet darauf, dass seine kleinen Leser, auch die ganz kleinen, aktiv werden. Axel Schefflers bunter Bauernhof ist ein magnetisches Bilderbuch. Der Clou daran: 15 Tiermagnete wollen aus dem Stall geholt werden. Danach kann sich die Fantasie nahezu grenzenlos entfalten, egal, ob die Kinder Schwein, Kuh, Katze oder Schaf zu ihren Jungen legen, an die richtige Futterstelle führen – oder gleich ganz neue Geschichten erfinden. Ein Riesenspaß und eine glänzende Idee.

Axel Scheffler: Der magnetische Bauernhof. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 10 Seiten, 14,90 Euro

Entdeckerfreude

Die warmen Sandfarben des Maghreb, die strahlende Sonne und die betörenden Düfte exotischer Gewürze an den Ständen der quirligen Märkte durchströmen das wunderschöne Bilderbuch „Arifs Schatz“. Marco Carrara folgt in seinem Text einer alten arabischen Legende. Er erzählt die Geschichte von Arif, der in einem Traum eine Stimme hört, die ihm einen reichen Schatz verheißt. Dafür soll er eine gefährliche Reise durch die Wüste bis in die geheimnisvolle Stadt Dukmareth auf sich nehmen. Arif folgt seinem Traum, dem vermeintlichen Glück, um nach vielen Mühen festzustellen, dass er den wahren Schatz dort findet, wo er ihn am wenigsten vermutet hätte: bei sich selbst.
Chiara Carrer hat die tiefgründige Geschichte mit der für sie typischen Collagetechnik illustriert. Sie benutzt Fotos, Bleistiftzeichnungen, Ölmalerei, Zeitungsausschnitte und lässt diese wilde Mixtur zu einem harmonischen Ganzen zusammenfließen: zu einem lebendigen, sonnigen Bilderbuch, das Fantasie und Entdeckerfreude weckt.

Chiara Carrer
Marco Carrara: Arifs Schatz. Picus Verlag, Wien. 32 Seiten, 14,90 Euro

Panoramawissen

Bilder erklären die Welt und schicken Kinder auf eine Entdeckungsreise durch das Reich des Wissens. Herders neues Bilderlexikon verlockt mit bunt und reich ausgestatteten, doppelseitigen Panoramaseiten, streng nach Themen sortiert, nicht nur Kinder zum Eintauchen in Städte, Wüsten, Flughäfen oder Bahnhöfe. Auch Erwachsene finden dort Informationen, die sie gerade nicht parat haben oder vielleicht wirklich noch nie wussten. Nützlich!

Das große Herder Bilderlexikon. Verlag Kerle bei Herder, Freiburg/Basel/Wien. 232 S., zahlr. Abb., 19,90 Euro

Verständlich und erhellend

Ein Buch über die fünf großen Religionen? Für Kinder längst überfällig! In der Schule, im Fernsehen, in der Nachbarschaft begegnen Kindern ständig sichtbare Verhaltensweisen, die von ihrer Erfahrungswelt abweichen. Das Kopftuch der muslimischen Mitschülerinnen ist wohl das häufigste äußere Zeichen einer Religionszugehörigkeit, aber auch das jüdische Nachbarskind, das keine Gummibärchen isst, weil die darin enthaltene Gelatine Reste vom Schwein bergen könnte, also nicht koscher ist. Christine Schulz-Reiss bricht in ihrem Buch „Was glaubt die Welt?“ alle fünf Weltreligionen – Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam – auf die Ebene der Kinder herunter. Sie vergleicht beispielsweise Regeln innerhalb der Familie (Aufräumen einmal pro Woche) mit denen in der Religionsgemeinschaft (nicht stehlen, nicht töten, nicht lügen) und listet die Feste auf, mit denen die jeweiligen Kirchen ihrem Glauben huldigen.
Besonders sorgfältig hat die Autorin zum Thema Islam recherchiert. Sie macht kleinen Lesern auch den Ursprung des „Dschihad“, des „Heiligen Krieges“ deutlich, der für Muhammad ursprünglich eher der innere Kampf war. Von Terror und Gewalt gegen Andersgläubige, wozu islamische Fundamentalisten aufrufen, steht nichts im Koran. Das gut verständliche, erhellende Sachbuch für Leser ab 9 oder 10 Jahren garniert Werner Tiki Küstenmacher mit witzigen bunten Illustrationen, die die jeweiligen Kernaussagen der Texte treffsicher auf den Punkt bringen.

Christine Schulz-Reiss/Werner Tiki Küstenmacher: Was glaubt die Welt? Die fünf großen Religionen.
Loewe Verlag, Bindlach. 160 Seiten, 12,90 Euro

 

Europa und seine Eigenheiten

Die Europäische Union (EU) wächst seit Jahren und hat in diesem Jahr einen großen Schub gemacht: Im Sommer kamen auf einen Schlag zehn Länder hinzu. Ein EU-Atlas für Kinder macht also Sinn, auch wenn gerade die neuen Mitgliedsstaaten in diesem Band ein wenig zu kurz kommen. Trotzdem gibt es geballte und nützliche Informationen zu allen Ländern, ihren größten Städten, ihren Sehenswürdigkeiten und kulturellen wie kulinarischen Eigenheiten. Nette Schmankerln: Infokästen zu Größe und Einwohnern und mit ein paar Worten (Guten Tag, Danke, Wie geht’s) in den jeweiligen Landessprachen.

Norbert Golluch/Johanna Ignjatovic: Mein großer Atlas zur Europäischen Union.
Annette Betz Verlag, Wien/München. 72 Seiten, 17,95 Euro

Märchenband mit Ewigkeitswert

Das Andersen-Jahr 2005 wirft seine Schatten voraus. Der Verlag Beltz & Gelberg hat zum 200. Geburtstag des dänischen Dichters einen Prachtband mit ausgewählten Märchen herausgebracht. Prächtig daran ist nicht allein die Goldprägung auf dem Umschlag. Die wahre Pracht sind Nikolaus Heidelbachs Illustrationen. 
Der Kölner Künstler verleiht der Märchensammlung Ewigkeitswert. Und zwar nicht nur wegen der Perfektion, mit der er einen Ball so malt, dass jeder den Lederball erkennt. Oder einen Kreisel, der unverkennbar aus lackiertem Holz besteht. Vielmehr verblüfft die Art und Weise, wie tiefsinnig und verschmitzt er seine Motive auswählt. 
Für „Der Mistkäfer“ bildet er den schwarzen Krabbler genau in dem Moment ab, als er sich fast wie ein Reiter in der Mähne des edlen Rosses festkrallt. Als ob es keinen anderen und keinen passenderen Platz für Käfer gäbe. Den nackten Mann aus „Des Kaisers neue Kleider“ schenkt sich Heidelbach ganz. Stattdessen setzt er das verlogen applaudierende Publikum ins Bild – und das kleine Kind, das hinter vorgehaltener Hand herauskichert: „Aber er hat ja nichts an!“ 
„Die Schneekönigin“ saust in ihrem schnittigen Schlitten wie ein Phantom vorbei, in verwaschenen Konturen hinter wildem Schneegestöber kaum zu erkennen. Nur die kalten Augen blitzen unter der schweren Pelzmütze. Ganz unten in der Bildecke folgt ihr der kleine Kai auf seinem Holzschlitten, fröstelnd in Mütze und Schal, schon halb ergeben in die Macht der Eiseskälte. 
Ein Bild übertrifft alle: Die Hochzeitstafel mit dem Teetassenaugen- und dem Mühlradaugenhund, Thema aus dem Märchen „Das Feuerzeug“. Erst auf den dritten Blick stellt sich die Gewissheit ein, dass das riesige Rundturmauge des dritten Hundes den Hintergrund bildet. Wirklich meisterhaft!

Hans Christian Andersen: Märchen.
Illustriert von Nikolaus Heidelbach.
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 376 Seiten, 38 Euro

Thura Al-Windawi: Thuras Tagebuch. Eine 19-Jährige erlebt den Krieg im Irak. Oetinger Verlag, Hamburg. 160 Seiten, 10,90 Euro

Bomben auf Bagdad

Ich sehe die Dinge plötzlich so, wie ich sie noch nie gesehen habe. Dies ist der schwerste Tag in meinem Leben.“ Als die 19-jährige Pharmaziestudentin Thura diese Zeilen in ihr Tagebuch schreibt, sind es nur noch wenige Stunden, bis die ersten Bomben auf Bagdad fallen. Es ist das Jahr 2003. Thura Al-Windawis Tagebuch setzt am 15. März ein, wenige Tage vor den ersten Angriffen der Amerikaner. Chaotische Zustände herrschen in der Stadt. Thura lebt mit ihrer Familie mitten in Bagdad und schildert erschütternde Szenen des Abschieds, der Flucht aufs Land, von Raketeneinschlägen und der allgegenwärtigen Angst. Schonungslos beschreibt sie den Alltag des Krieges und die nicht minder schlimme Zeit danach. Propaganda nimmt in ihrem spannend zu lesenden Buch, das Verständnis für ihr Land wecken soll, keinen Platz ein. Sachlich und differenziert analysiert sie die politische Situation, es findet weder eine Abrechnung mit dem Saddam-Regime noch mit den Amerikanern statt. Thura sieht vor allem die Not der Menschen. 
Kritisch setzt sie sich mit den Irakern auseinander, die die Bedeutung des Wortes Freiheit zerstören, indem sie Krankenhäuser plündern und die eigenen Landsleute umbringen. Sie thematisiert auch die unterschiedliche Stellung von Frauen und Männern im Irak, die ihr nach der Flucht aufs Land erst richtig bewusst wird. Thuras Aufzeichnungen enden im Juni 2003. Danach verlässt sie ihr Land, um in den USA ihr Studium fortzusetzen, „nicht um sich zu rächen, sondern um zu lernen, zu leben und zu lieben wie alle anderen auch.“

Außerhalb der Mauern

Mit seinem spannenden Jugendbuch „Benny und Omar“ entführt Eoin Colfer seine Leser nach Tunesien. Er erzählt darin die beeindruckende Freundschaft zweier Jungen, die aus höchst unterschiedlichen Kulturkreisen kommen. Im Zentrum des Geschehens stehen der aus Irland stammende Benny, dessen Vater als Ingenieur nach Tunesien versetzt wurde und nun innerhalb der Mauern eines abgeschirmten tunesischen Dorfes lebt, daneben der tunesische Waisenjunge Omar, der außerhalb der Mauern ums Überleben kämpft. Eoin Colfer lebte selbst viele Jahre in Tunesien. Sein Buch ist ein Beitrag zur Völkerverständigung. Es beleuchtet die afrikanische Kultur in all ihren Facetten, ist damit informativ und lehrreich – und obendrein komisch, wenn Omar in seinem Kauderwelsch aus englischen Fernseh- und Werbesendungen mit Benny spricht. Die Geschichte führt den Leser vorurteilsfrei in eine Welt, die so viel Menschliches, aber auch Unmenschliches zu bieten hat. Die extremen Kontraste zwischen Arm und Reich, vor allem aber das Schicksal Omars und seiner Schwester, die traumatisiert durch den Unfalltod der Eltern auf einer Psycho-Farm dahinvegetiert. Doch es muss noch Schlimmeres geschehen, bis die Erwachsenen innerhalb der Mauer sich ihrer sozialen Verantwortung entsinnen. Der Schluss des aufrüttelnden Romans ist offen, aber man ahnt, dass alles zu einem guten Ende kommen wird.

Eoin Colfer: Benny und Omar. Beltz & Gelberg Taschenbuch, Weinheim. 292 Seiten, 7,90 Euro

Allah sei Dank

Auf eine Reise ins Osmanische Reich des 16. Jahrhunderts nimmt David Macaulay junge Leser mit. Als Gegenstück zu seinem viel gelobten Klassiker „Sie bauten eine Kathedrale“ lässt er Schritt für Schritt ein islamisches Gotteshaus entstehen. Auf der einen Seite Planungsgespräche, Entscheidungsprozesse, einzelne Bauabschnitte – auf der anderen der Bauherr, ein frommer Muslim, der mit der Moschee Allah danken will. Der geniale Zeichner Macaulay besticht mit stetig wechselnden Perspektiven. Mal ein Blick hinauf die Kuppel, mal hinunter auf die wachsenden Gewölbe. So ganz nebenbei lernen die Leser, was ein Alem, ein Portikus oder ein Pendentif ist. Und am Ende stehen sie bewundernd vor dem fertigen Komplex – und dem prallen Leben, das im ringsherum entstandenen neuen Stadtteil pulsiert.

David Macaulay: Sie bauten eine Moschee. Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 94 S., 19,90 Euro

©imke habegger 2004