Nanga Parbat, 8125 m

 

 

Nanga Parbat, 8125 m, im pakistanischen Teil von Kaschmir gelegen

Der Berg des Schreckens

Die ganze Welt feiert noch die Erstbesteigung des Mount Everest, als am 3. Juli vor 50 Jahren der junge Österreicher Hermann Buhl für die Deutschen den Nanga Parbat bezwingt. Im Alleingang, ohne Flaschensauerstoff – eine heute noch bewunderte Meisterleistung

Der Mann, der den Pickel mit dem Wimpel des Karwendler Alpenclubs in den Schnee rammt, ist mehr tot als lebendig. Auf eigene Faust, ohne Sauerstoff und allein ist er den weiten Weg vom letzten Hochlager aufgestiegen und schenkt den Deutschen das, wonach sie sich seit den 30er Jahren heiß sehnen: den Nanga Parbat, das 8125 Meter hohe gigantische Massiv im westlichen Karakorum, Pakistan, der neunthöchste Berg der Erde. Der Mann, der diese Erstbesteigung als Mitglied einer deutschen Expedition geschafft hat, heißt Hermann Buhl, Österreicher und ein Extrembergsteiger erster Güte. Am 3. Juli 1953, kurz nach der Erstbesteigung des Mount Everest, ist der „Schicksalsberg der Deutschen“ endlich bezwungen. Bis heute gilt es als Wunder, dass Buhl den Rückweg auch noch schafft.

Lager IV ist eine Schneehöhle am Fuß der steilen Felswand des Rakhiot Peak, die äußerste Erhebung am Ostgrat des Nanga Parbat, knapp 7000 Meter hoch. Sechs Kilometer Luftlinie vom Gipfel entfernt! Zum Vergleich: Das höchste Lager am Everest, von dem aus 1953 die Erstbesteiger Edmund Hillary und Tensing Norgay aufbrachen, lag auf 8500 Meter! Im Gegensatz zu seinem Gefährten Otto Kempter kann Hermann Buhl nicht schlafen. Der Berg ruft ihn mit Macht. Alle Gipfel ziehen den Mann aus Innsbruck so urtümlich magisch an, dass er nicht eher ruht, bis er sie erklommen hat.

Ein Greis kehrt zurück

Um 2.30 Uhr geht Buhl los – allein. Kempter kommt nicht aus dem Schlafsack und will später folgen. Er wird Buhl nicht einholen und auf dem Silbersattel aufgeben. Buhl erreicht den Vorgipfel und betritt Neuland. Niemand ist jemals vor ihm so weit oben gewesen. Er muss ein Stück zur Bazhin-Scharte absteigen, dann bleiben „nur“ noch 313 Höhenmeter zu überwinden. Buhl hat aufgeschrieben, was er sah: „Ein steiler turmbesetzter Felsgrat, senkrechte, scharfkantige Granitaufschwünge…, äußerst ausgesetzt.“ „Ausgesetzt“ nennen Bergsteiger Regionen, in denen Absturzgefahr auf Schritt und Tritt zu äußerster Vorsicht mahnt. Niemand weiß, woher er die Kraft nimmt weiterzugehen. Seine Reserven muss er schon lange ausgeschöpft haben. Er ist seit 17 Stunden unterwegs. Gegen 19 Uhr kriecht er auf allen Vieren zum Gipfel. Er befestigt den Wimpel und die pakistanische Flagge am Pickel, schießt ein Foto und beginnt eine halbe Stunde später den Abstieg. Sein Eispickel wird erst 1999 gefunden. 

Bis auf 8000 Meter kommt Buhl hinunter, dann umhüllt ihn Dunkelheit, und er verliert ein Steigeisen. Stehbiwak in der steilen Wand – die ganze Nacht lang. Hätte sich auch nur der leiseste Wind erhoben, wäre der 28-Jährige unweigerlich erfroren. Es bleibt völlig windstill. Im Morgengrauen steigt er weiter ab. Am Silbersattel sucht er nach Kempter – vergebens. Buhl hat nichts mehr zu trinken: „Bald wird der Durst noch brennender, die Zunge klebt mir am Gaumen, der Hals ist offen, rauh wie ein Reibeisen, der Mund schäumt mir förmlich“, schreibt er später auf.

Günther Messners Tod

Als er gegen 19 Uhr Lager IV erreicht, sieht er aus wie ein Greis, ist erschöpft und völlig ausgetrocknet. 41 Stunden war er unterwegs, mehrere Zehen sind erfroren. Die Expeditionsmitglieder Walter Frauenberger und Hans Ertl, vormals Kameramann der Leni Riefenstahl, versorgen den Erschöpften mit Tee und Kaffee. Buhl kann sich kaum mehr rühren, aber er ist glücklich: Nanga Parbat-Erstbesteigung, im Alleingang, ohne Sauerstoff. Die junge Bundesrepublik bejubelt Buhls sportlichen Erfolg. Endlich ist der Nanga Parbat besiegt. Der schwere Berg, an dessen Flanken bei vorangegangenen Expeditionen 31 Menschen ihr Leben ließen.

Heute bleibt es still am Nanga Parbat. Kein Alpinzirkus der Besessenen wie am Mount Everest. Nur wenige Bergsteiger wagen sich an den steil aufragenden Eisriesen am Westrand des Himalajas, der wegen plötzlicher Wetterumschwünge und der unberechenbaren Lawinen die grausame Aura des Schreckensberges behält. Zum Schicksalsberg wird er auch für Reinhold Messner: 1970 durchsteigt er mit seinem Bruder die 4500 Meter hohe Südwand, beim Abstieg kommt Günther Messner ums Leben. Nicht einmal sein Bruder sah, wie er starb. Messner zieht es immer wieder zum Nanga Parbat, dem „nackten Berg“, zurück. 1978 bezwingt er ihn im Alleingang ohne Sauerstoff. Und nun plant der Südtiroler Ausnahmebergsteiger erneut eine Tour zu dem eisigen Massiv. Mit Metalldetektoren will er die Steigeisen seines Bruders Günther orten, weil er hofft, dass der Fundort der Leiche endlich die Vorwürfe entkräftet, er habe seinen Bruder 1970 im Stich gelassen.

Herrligkoffer und das Streiten

Der Nanga Parbat ist der Berg der Streithähne. Fast immer, wenn es Streit gibt, ist Dr. Karl Maria Herrligkoffer darin verwickelt. Der 1916 in Schweinfurt geborene praktische Arzt ist der Halbbruder von Willy Merkl, dem Expeditionsleiter von 1934, der mit sechs Sherpas und den Bergsteigern Willo Welzenbach und Uli Wieland im Schneesturm am Nanga Parbat stirbt. Herrligkoffer fühlt sich berufen, das Gedenken an seinen Halbbruder wach zu halten. Er streitet 1953 mit Hermann Buhl. Buhl ärgert sich, weil Herrligkoffer in seinen Veröffentlichungen seine Leistung zu schmälern und die Willy Merkls zu steigern versucht.

Herrligkoffer streitet auch 1970 und noch Jahre danach mit Messner, dem er die Verantwortung für den Tod des Bruders anlastet. Der Arzt ist kein Bergsteiger und sieht sich wiederholt Vorwürfen ausgesetzt, er agiere als Expeditionsleiter laienhaft und treffe in wichtigen Situationen nur Fehlentscheidungen. Doch Herrligkoffer findet Rückhalt in der Bevölkerung und bei den Sponsoren aus der Wirtschaft, weil er der Mann ist, der nach dem Krieg, als Deutschland in jeder Hinsicht in Schutt und Asche liegt, die „Wir-sind-wieder-wer“-Gefühle schürt und die Nation erneut zum Nanga Parbat und damit in die Bewunderung der Weltöffentlichkeit treibt.

Hitlers böse Botschaft

1932, 1934, 1937 sind die Schicksalsjahre, in denen die Elite der deutschen Bergsteiger gegen den „Killing Mountain“ anrannte und dabei umkam. 1937 erstickten 15 Männer in einer Lawine – das war das vorläufige Ende des deutschen Traums vom Nanga Parbat. Die Schicksalsjahre sind aber auch die trüben Jahre der Nationalsozialisten. Hitler stempelte die Alpinisten zu Vorbildern der deutschen „Heldenrasse“, die – hart wie Kruppstahl und als Bergkameraden treu ergeben bis in den Tod – für Deutschland Ruhm und Ehre erringen sollten. Die traurige Wahrheit ist, dass die deutschen Alpenschutzhütten als erste „judenfrei“ waren und die Alpenvereine sich widerstandslos und schnell überzeugt dem Gedankengut des „Führers“ ergaben. Hitlers böse Botschaft fiel in deutschen Bergsteigerkreisen auf äußerst fruchtbaren Boden.

Wie der Everest hat auch der Nanga Parbat seinen „Mallory“. Er heißt Albert F. Mummery und starb als erster an dem gewaltigen Massiv der weiten Wege. 1895 kam der tollkühne Unternehmer und Brillenträger, damals der beste Bergsteiger Englands, auf die Idee, den Nanga Parbat mit Seil und Pickel, Nagelschuhen und Tweedjacke wie einen Dreitausender in den Alpen zu besteigen. Er hatte die Entfernungen gewaltig unterschätzt. Der Versuch kostete ihn irgendwo zwischen Diama-Gletscher und Diama-Scharte das Leben. Mummery hat das Credo „by fair means“ begründet: mit fairen Mitteln solle man einen Berg besteigen, also ohne zusätzlichen Sauerstoff und übertrieben technische Ausrüstung. Ein Credo, das Reinhold Messner wie kaum ein anderer bis heute beherzigt.

By fair means

Auch Hermann Buhl ging „by fair means“ auf den Nanga Parbat. Messner sagt über den zähen Gipfelstürmer: „Was, wenn Hermann Buhl 75 Jahre alt geworden wäre? Mit Sicherheit hätte er den Alpinismus weiter geprägt, viel mehr, als wir ahnen könne. Er war der beste Kletterer seiner Zeit. Die Erstbesteigung war eine bergsteigerische Glanzleistung.“

Buhl wurde nicht 75, sondern nur 32 Jahre alt. 1957 steigt er mit Kurt Diemberger an den Flanken der 7654 Meter hohen Chogolisa im Karakorum hinauf, als ein Schneesturm sie zur Umkehr zwingt. Bei schlechter Sicht stürzt Buhl an einer für seine Verhältnisse ungefährlichen Stelle mit einer sich lösenden Schneewechte in die Nordwand ab. Diembergers Suche nach ihm bleibt erfolglos. Seit dem 27. Juni 1957 gilt Hermann Buhl als verschollen.
 

©imke habegger/general-anzeiger bonn 2003

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hermann Buhl starb mit 32 Jahren

Hermann Buhl